Ego und Selbst


Die östliche Forderung nach der Befreiung vom Ego löst bei den meisten westlichen Menschen eher Angst als Zuversicht aus. Man fürchtet die Auslöschung des eigenen Daseins als Individuum, wenn das Ego losgelassen wird. In Wirklichkeit gibt es aber zur Ego-Auflösung keine Alternative, wenn man selbst sein will. Der Grund dafür liegt darin, dass unser Ego begrenzt ist, während das Selbst unbegrenzt ist. Das ist keine philosophische Spitzfindigkeit, sondern eine erfahrbare Tatsache.

Unser Ego könnte man mit der Festplatte eines Computers vergleichen und das Selbst mit allen im Internet bereitgestellten Informationen. Dass wir gewöhnlich dem Ego mehr vertrauen als dem Selbst, hängt wohl damit zusammen, dass wir unabhängig von einem Internetzugang jederzeit auf dessen Datenmengen zugreifen können. Wir identifizieren uns mehr mit den Daten, die wir auf unserem eigenen PC gespeichert haben als mit der gigantischen Datenmenge, die uns das Internet potenziell zur Verfügung stellt. Viele Menschen kleben so an ihrem Eigenen, dass sie den Verlust sämtlicher auf ihrem Computer gespeicherten Dateien für gravierender halten würden als die dauerhafte Aussperrung vom Internet. Dass diese Einschätzung irrational ist, bedarf wohl kaum der Begründung.

Doch genauso irrational verhalten wir uns, wenn wir unserem Eigenwillen den Vorrang vor dem Willen des Ganzen geben. Dem Ganzen steht bei jeder zu treffenden Entscheidung die Gesamtheit aller vorhandenen Daten zur Verfügung, während das Ego seine Entscheidungen auf der Basis von Informationen trifft, die im Verhältnis zum Ganzen nur ein Tropfen im Ozean sind. Wer an diesem Tropf hängt, nur weil er sein eigener ist, ringt mitten im Leben mit dem Tod wie ein Patient auf der Intensivstation.

Wem es gelingt, sich aus der Identifikation mit dem eigenen Ego zu befreien, dem steht eine Welt offen, von der er vorher nur die Konturen hat wahrnehmen können. Bezogen auf das Computer-Beispiel hat er einen großen Sprung von einem einzelnen PC ins world wide web gemacht. Doch nun lauert bereits die nächste Gefahr, nämlich sich mit den daraus bezogenen Informationen zu identifizieren. Eine solche Identifikation entspräche innerpsychisch der Identifikation mit dem Selbst, denn das Selbst hat nicht nur Zugang zu allen bewussten Inhalten, sondern auch zu allen unbewussten, die auf das Bewusstsein einwirken. Insofern ist man eigentlich schon am Ziel, wenn man sich mit dem Selbst statt mit dem Ego identifiziert. Jetzt fehlt nur noch ein kleiner aber entscheidender Schritt. Man muss auch noch die Identifikation mit dem Selbst als Illusion durchschauen.

Der indische Gelehrte Ramana Maharshi hat kurz und knapp den Weg beschrieben, wie man über das wahre Selbst in Berührung mit dem ewigen Jetzt kommen kann:

"Zuerst sieht man das Selbst als die Dinge,
Dann sieht man das Selbst als Leere,
Dann wiederum sieht man das Selbst als das Selbst;
Nur im letzten Fall gibt es kein Sehen,
Denn Sehen ist Werden."

Ramana Maharshi in: Große Meister Indiens, Jyotishman Dam, Hrsg., Schirner, Darmstadt 2006, S. 214

In der ersten Zeile wird der Zustand beschrieben, in dem das Selbst sich mit den Dingen identifiziert. Hier hält das Ego noch die Einverleibung der Dinge für sein Selbst.
In Zeile zwei hat das Ego die Nichtigkeit seiner Identifikation mit den Dingen erkannt. Es identifiziert sich jetzt mit dem Selbst als etwas, das nicht existiert.

Doch in dieser Leere hält es das Ego nicht aus. Der Weg zurück zur Identifikation mit den Dingen ist ihm ebenfalls versperrt. Schließlich erkennt es in Zeile drei das Selbst als die Gleichzeitigkeit von Sein und Nichtsein. Jetzt erst wird das Selbst als das Selbst erkannt. Es hat eine immanente Dimension, in der es Form annimmt, und eine transzendente, in der es formlos, also leer ist. Solange man darin einen Widerspruch sieht, befindet man sich in der Dualität. Sobald man die Einheit der beiden Dimensionen erkannt hat, sieht man das Selbst als das Selbst. Wo die Identifikationen enden, beginnt die wahre Identität.

Zeile vier: Das Selbst als das Selbst sehen, heißt nichts sehen. Nichts sehen heißt nur das sehen, was man selbst nicht sieht, denn was man selbst sieht, ist nicht das Selbst. Was man selbst sieht, ist die bloße Vorstellung vom Selbst, also Projektion. Erst der Verzicht auf das Selbst-Sehen ermöglicht Wahr-Nehmung. Zeile fünf: In der Wahrnehmung zeigt sich alles als ungeworden. Die Illusion von Raum und Zeit ist eine Ego-Projektion auf das Selbst. Die Filmrolle selbst kennt keine Zeit. Erst wenn man sie abspielt, also den Film sehen will, entsteht die Illusion von Zeit.

Der Weg vom falschen Selbst, dem Ego, zum wahren Selbst, dem raumzeitlosen Ganzen, führt also über die Selbstaufhebung des Ego. Den Begriff Selbstaufhebung verstehe ich hier im dreifachen Hegelschen Sinne:

  1. Das Selbst ist abgeschafft. Die falsche Vorstellung vom Selbst wurde erkannt.

  2. Das Selbst ist aufbewahrt. Das wahre Selbst geht durch die falsche Vorstellung von ihm nicht verloren.

  3. Das Selbst wird in eine höhere Ebene hinauf gehoben. Im wahren Selbst, das heißt in der Gleichzeitigkeit von Sein und Nichtsein sind alle Widersprüche aufgehoben.

Zyniker könnten an dieser Stelle anmerken, dass eher ein Kamel durchs Nadelöhr geht, als dass ein Mensch zur Selbstaufhebung bereit wäre. Ganz Unrecht hätten sie damit nicht. Dennoch gibt es eine kleine Minderheit, die diesen Schritt der Nichtidentifikation wagt. Es sind diejenigen, die bereit sind, mitten im Leben zu sterben, wie ein Zen-Meister treffend bemerkt:

"Stirb, während du lebst, und sei vollkommen tot.
Dann tue, was immer du willst - alles ist gut."
Meister Shido Bunan, in: Zenkai Shibayama: Eine Blume lehrt ohne Worte, 1. Aufl. Bern: Scherz, 1989, S. 42

 

 Gewahrsein, Ego und Selbst
Mein Ego beschränkt sich auf mein Leben. Das Selbst ist die Quelle allen Lebens.
Im reinen Gewahrsein ist der Dualismus von Ego und Selbst aufgehoben.

Der Prozess der Selbstaufhebung geht mit einem allmählichen Absterben des Ego einher, und nur wer darauf vertraut, als Selbst weiterzuleben, wird den Sprung in die Ungewissheit wagen. In den seltensten Fällen geht es dabei um den physischen Tod, wie etwa bei Menschen, die bereit sind, für ihre Ideale zu sterben. Im alltäglichen Leben dominiert meist die Angst, zu kurz zu kommen, wenn man egoistische Ziele aufgibt. Diese Angst ist um so mehr berechtigt, je egoistischer die Menschen sind, mit denen man es zu tun hat. Ein hohes Gewahrsein ist aber sowohl in der Lage, den eigenen Egofaktor situativ präzise zu beziffern als auch den Egofaktor des Gegenübers. Unter Egofaktor verstehe ich den prozentualen Anteil egoistischer Motive bei bestimmten Handlungen.

Tritt mir jemand mit starken egoistischen Motiven gegenüber und möchte mich für seine Zwecke instrumentalisieren, dann habe ich im Prinzip drei Möglichkeiten:
Ich kämpfe, indem ich mein eigenes Ego mobilisiere. Ich kapituliere aus Angst. Ich versuche, der Person situativ oder dauerhaft aus dem Weg zu gehen. Da ein hohes Gewahrsein sich nicht von Prinzipien leiten lässt, kann es in jeder spezifischen Situation optimal reagieren. Ein Mensch, der sich von Prinzipien befreit hat, wird mal kämpfen, mal kapitulieren, mal die Egomanen meiden. Sein Gewahrsein wird ihm jederzeit rückmelden, wie sein Gesamtsystem auf die verschiedenen Reaktionsweisen reagiert.

Dabei wird er die Erfahrung machen, dass vermeidbare Kämpfe unnötig Kräfte binden und dass vermeidbare Kapitulationen die Kräfte auf allen drei Ebenen schwächen. Deshalb wird er immer mehr den Umgang mit Menschen suchen, bei denen weder Ego-Kämpfe noch Kapitulationen erforderlich sind. In diesem Umfeld kann er sich selbst gefahrlos aufheben. Jemand, der dafür bekannt ist, dass er sich sein menschliches Umfeld konsequent nach diesem Kriterium ausgesucht hat, war Albert Einstein, und er wusste warum:

"Der wahre Wert eines Menschen ist in erster Linie dadurch bestimmt, in welchem Grad und in welchem Sinn er zur Befreiung vom Ich gelangt ist."
Albert Einstein: Mein Weltbild, Zürich: Ullstein, 2005, S. 131

Auch im chinesischen I Ging spielt die Frage eine zentrale Rolle, wie ein ganzheitlich orientierter Mensch sich verhalten soll, wenn er unter die Herrschaft egoistischer Machtmenschen gerät, wie zum Beispiel tyrannische Eltern, Lehrer, Chefs oder Gefängniswärter, die einen schikanieren wollen. Im I Ging bedeutet dies, dass die Edlen unter die Herrschaft der Gemeinen geraten sind. Dann kommt es zunächst zu einer Stockung = Hexagramm Nr. 12, bei der es ratsam ist, sich nach innen zu wenden und zurückzuziehen. Erst wenn im Innern Klarheit herrscht, kann man gefahrlos seine Wahrheit nach außen tragen = Hexagramm Nr. 43, Der Durchbruch.

Hinter dieser einfachen Darstellung verbirgt sich eine tiefgründige Kenntnis der menschlichen Psyche. Das Buch der Wandlungen, wie das I Ging auch genannt wird, geht nämlich davon aus, dass in jedem Menschen die Teilpersönlichkeiten Der Edle und Der Gemeine vorhanden sind. Wenn wir im Äußeren unter die Herrschaft der Gemeinen geraten sind, sollten wir deshalb zunächst prüfen, ob in unserem Innern bestimmte gemeine Teilpersönlichkeiten die Herrschaft über die edlen errungen haben. Werden wir kraft unseres Gewahrseins fündig, dann sind Rückzug und Bereinigung angesagt. Erst wenn die inneren edlen die Vorherrschaft über die inneren gemeinen Teilpersönlichkeiten errungen haben, könnte es sinnvoll sein, sich gegen "feindliche Angriffe von außen" zu schützen.

Schließlich lösen sich die Feinde aber in nichts auf, wenn unser Inneres ihnen keine Angriffsfläche mehr bietet. Käme es dennoch zum Kampf, dann träte nicht mehr Ego gegen Ego an, sondern alles Handeln könnte als das duale Spiegelbild des nichtdualen Selbst betrachtet werden. Dann würden wir nicht mehr gegen etwas kämpfen, sondern einfach nur im Einklang mit unserer inneren Stimme handeln, so wie einst der Feldherr Arjuna, der in der Bhagavadgita von Krishna zum Kampf gegen seine eigenen Verwandten aufgefordet wird. Jede Handlung, die aus der reinen Seele hervorgeht, kann auf der körperlichen Ebene nicht unrein werden: "Wenn man in Übereinstimmung mit den Gesetzen der eigenen Natur handelt, begeht man keine Sünde." Bhagavadgita, Übersetzung von Sri Aurobindo,  Herder, Freiburg im Breisgau, 2. Auflage 1998, S. 149, Vers 18,47

Liebe und Urvertauen