Gewahrsein und Homöostase


Wie bereits erwähnt, bezeichne ich das integrale interaktive Körper-Geist-Seele-System als Gesamtsystem, dessen komplexeste Schaltzentrale, unser Gehirn, besonders leistungs- aber auch störanfällig ist. Das hängt mit der gigantischen Informationsmenge zusammen, die es in jeder Sekunde verarbeitet. Neurowissenschaftler gehen heute davon aus, dass unser Kopfhirn nicht die einzige Schaltzentrale ist, sondern dass es zusätzliche neuronale Zentren gibt, wie etwa das sogenannte Bauchhirn. Selbst wenn man in einer entspannten Situation ganz allein ist, sendet und empfängt das Gesamtsystem ununterbrochen eine Unmenge von Daten, die prinzipiell dem Bewusstsein zugänglich sind. Würde dieses versuchen, permanent all diese Informationen zu sichten, zu bewerten und daraus bestimmte Handlungen abzuleiten, käme es wie bei einem überlasteten Computer zum Absturz des gesamten Systems.

Beim Menschen verhindert das hochsensible und intelligente Gesamtsystem solche Abstürze dadurch, dass es die Menge der Daten millisekundenschnell verarbeitet und vorinterpretiert. Das Bewusstsein wird dann nur noch mit Handlungsimpulsen versorgt, die in jedem Augenblick konkret vorschlagen, was jetzt getan werden sollte, und dies geschieht auf allen Ebenen des Gesamtsystems. Ehe es zum Beispiel die Interpretation Hunger und den Vorschlag Essen sendet, hat es bereits unzählige Datenmengen aus dem von ihm gesteuerten Organismus verarbeitet, die es dem Bewusstsein zu dessen eigener Entlastung aber vorenthält. Sobald unser Gewahrsein den Hunger registriert, werden wir auch ohne einen komplizierten mentalen Abwägungsprozess einfach etwas essen, um uns wieder wohlzufühlen. Wenn das Gesamtsystem optimal interagiert, können wir darauf vertrauen, dass es uns jederzeit mit Impulsen versorgt, die uns guttun.

 Probleme entstehen nur dann, wenn es innerhalb des Gesamtsystems Konflikte gibt, zum Beispiel wenn ein Impuls nach kurzfristigen Gesichtspunkten umgesetzt, aber nach langfristigen ignoriert werden müsste. Beim Beispiel Hunger wäre dies der Fall, wenn das Bedürfnis, etwas zu essen nicht primär physiologischer, sondern psychischer Natur wäre. Dann hätten wir in Wirklichkeit keinen Hunger, sondern nur Appetit. Um kurzfristig ein homöostatisches Gleichgewicht zu erzeugen, müsste das Gesamtsystem den Impuls Essen aussenden. Da aber der Organismus durch Übergewicht Schaden nehmen könnte, müsste es unter langfristigen Gesichtspunkten vor Nahrungsaufnahme bei künstlichem Appetit warnen.

Diesen Konflikt versucht das Gesamtsystem dadurch aufzulösen, dass es nach gleichwertigen oder höherrangigen Lustquellen sucht, die mit keinen oder zumindest geringeren langfristigen Nachteilen verbunden wären. Wird es dabei fündig, kann eine Nahrungsaufnahme aus kompensatorischen Motiven - umgangssprachlich auch als Frustessen bezeichnet - vermieden werden, und der Konflikt ist vorerst beseitigt. Je höher das Gewahrsein dieser inneren Abwägungsprozesse nach dem Lust-Unlust-Kriterium ist, desto größer ist auch die Chance, Konflikte dieser Art nachhaltig zu vermeiden.

 Viel komplizierter ist die Situation bei Konflikten geistiger oder seelischer Natur. Während körperliche Bedürfnisse sich in der Regel einfach und schnell befriedigen lassen, stellen existenzielle Ängste und Wünsche - insbesondere, wenn sie irrational sind - das Gesamtsystem manchmal vor unlösbare Aufgaben. Das folgende Beispiel zeigt, welche fatalen Folgen sich aus einer irrationalen Angst entwickeln können.

Fallbeispiel für eine irrationale Angst

Bianca ist etwa acht Jahre alt, als ihre alleinerziehende Mutter sie abends ausnahmsweise für kurze Zeit allein lässt. Das kleine Mädchen schläft, als seine Mutter in einer dringenden Angelegenheit das Haus verlässt. Noch ehe sie zurückkehrt, wird Bianca wach, hat Angst und möchte Licht machen. Da sie den Lichtschalter nicht gleich findet, glaubt sie, er sei verschwunden. Die Situation "Mutter verschwunden" und "Licht verschwunden" löst bei ihr Todesängste aus. Als die Mutter kurz darauf heimkehrt, gelingt es ihr nicht, ihr Kind zu beruhigen. Seit dieser Zeit hat das Mädchen extreme Angst vor Dunkelheit und vor dem Verlassenwerden. Obwohl sich eine solche Situation später nie mehr wiederholt und die Mutter sich für ihr Kind geradezu aufopfert, bleibt Bianca über viele Jahre hinweg existenziell verunsichert.

 Sie hasst sowohl ihre Mutter, von der sie glaubt, dass sie sie nicht liebt, als auch sich selbst, da sie meint, sie trage die Schuld an dem vermeintlichen Liebesentzug ihrer Mutter. Als ich ihr zum ersten Mal begegne, ist sie ein vierzehnjähriges hochsensibles, intelligentes und bildhübsches Mädchen ohne Selbstwertgefühl, mit selbstzerstörerischen Neigungen und massiven Lernblockaden. Ihre irrationale Angst löst im Gehirn permanent einen Fehlalarm aus, der die Entwicklung eines gesunden Spürbewusstseins und Gewahrseins verhindert. Mit kognitiven Methoden kann man traumatische Erlebnisse dieser Art nicht auflösen. Hier hilft nur der allmähliche Aufbau eines stabilen Gewahrseins, das schließlich in der Lage ist, die eingefrorenen Ängste aufzutauen, damit sie sich verflüchtigen können. Solange dies nicht geschehen ist, wird das Gesamtsystem auf die irrationale Angst immer wieder mit irrationalen Handlungsaufträgen reagieren und so den schädlichen Kreislauf in Gang halten. Dies ist ein typisches Beispiel dafür, dass Gedanken, die in der Vergangenheit eingefroren wurden, in der Gegenwart jederzeit auftauen können. Dem Denker ist gewöhnlich nicht bewusst, dass ihnen außer der durch sie konstruierten Wirklichkeit nichts in der Gegenwart entspricht. Konzentrationsstörungen sind dann eine zwangsläufige Folge.

 Kampf gegen Windmühlen

Vor rund 400 Jahren schrieb Cervantes seinen Roman Don Quichotte, der 2002
von hundert Autoren zum besten Buch der Welt gewählt wurde.
Der Kampf gegen
Windmühlen ist inzwischen zum geflügelten Wort geworden und heute aktueller denn je.

 

Wie das Gehirn auf irrationale Aufträge reagiert

Wahrscheinlich kennen Sie aus der Literatur, z.B. Cervantes Don Quichotte oder aus Filmen, z.B. Hitchcocks Marnie und vermutlich auch aus persönlicher Erfahrung ähnliche Beispiele, sodass ich hier auf weitere verzichten kann. Festzuhalten bleibt, dass irrationale Wünsche zu chronischen Irritationen im Gesamtsystem führen können. Immer dann, wenn wir uns etwas wünschen, das prinzipiell unmöglich ist, oder Angst vor etwas haben, das gar nicht existiert, programmieren wir Teufelskreise in unser Gesamtsystem, die zwangsläufig zu Frustrationen, Blockaden und in der Folge zu Energieverlusten führen.

Wie das Gehirn allgemein mit irrationalen Aufträgen umgeht, lässt sich gut am Beispiel eines Textes beschreiben, den man mithilfe von Computersoftware nach einem bestimmten Wort durchsucht.

Ist der Suchbegriff nicht im Text enthalten, liefert ein funktionierendes Programm keine Treffer. Wenn nun der Suchende fest davon überzeugt ist, dass das gesuchte Wort im Text vorhanden sein muss, wird er den Suchvorgang vielleicht mehrmals wiederholen, aber nie einen Treffer angezeigt bekommen. Dann überlegt er kurz und denkt sich: "Ich bin mir sicher, dass das Wort im Text vorhanden ist, und eben so sicher ist, dass ich die Suchfunktion korrekt ausgeführt habe." Jetzt bleibt als einzige logische Erklärung nur noch der Verdacht übrig, dass etwas mit der Suchfunktion nicht stimmt. Also gibt der Suchende bei Google ein: "Suchbegriff nicht gefunden" und erhält trotz der einschränkenden Anführungszeichen immer noch mehr als eine Million Ergebnisse. Nun kann er sich Tage, Wochen und Monate damit beschäftigen, in den in die Irre führenden Suchergebnissen eine Lösung für sein Problem zu finden – natürlich vergeblich, da das Problem, das er lösen möchte, gar nicht existiert. Sein einziges Problem ist die Suche nach etwas, das es nicht gibt.

Solange diese Irrationalität nicht ins Blickfeld des Gewahrseins gerät, wird der Suchende versuchen, möglichst schnell zu einer Lösung zu kommen und könnte dabei auf die Idee verfallen, den Suchvorgang durch das Öffnen mehrerer Fenster in seinem Browser zu beschleunigen, um so parallel verschiedene Suchergebnisse überfliegen zu können. Falls er ein Antivirusprogramm mit CPU-Warnfunktion hat, wird dann irgendwann der Warnhinweis erscheinen: Hohe CPU-Auslastung durch … CPU bedeutet Central Processing Unit und auf den Computer bezogen den Vorgang, der den Arbeitsspeicher aktuell am stärksten in Anspruch nimmt. Nähert sich die CPU-Auslastung der Marke von hundert Prozent, kann das den Computer zum Absturz bringen.

Auf ähnliche Weise funktioniert unser Gesamtsystem, wenn es irrationale Aufträge erhält: Der Geist rotiert, der Körper gerät unter Anspannung, das seelische Gleichgewicht geht verloren. Die gefährlichsten Folgen sind: punktuelle oder chronische Blockaden bis hin zum völligen Blackout, Vitalitätsverlust bis hin zur Depression und innere Unruhe bis hin zum Nervenzusammenbruch. Wundern braucht man sich über solche extremen Begleiterscheinungen von irrationalen Ängsten und Wünschen nicht. Sie sind die logische Konsequenz einer chronischen Überlastung unseres Hauptarbeitsspeichers, dem Gehirn, mit fatalen Folgen für das vegetative Nervensystem, das für die Aufrechterhaltung der inneren Homöostase von lebenswichtigen Vitalfunktionen wie Herzschlag, Atmung, Blutdruck, Stoffwechsel usw. zuständig ist.

Der Begriff Homöostase wird heute immer noch überwiegend für physische Vorgänge verwendet. Das ändert nichts daran, dass physische und psychische Homöostase eine untrennbare Einheit bilden. Jeder Gedanke hat physiologische Auswirkungen, und jeder physische Zustand beeinflusst die Gedanken und Gefühle. Um dies zu realisieren, ist nicht einmal ein hohes Gewahrsein erforderlich. Wem ist nicht schon einmal das Wasser im Mund zusammengelaufen, wenn er an ein leckeres Essen denkt, und wer ist nicht schon mal ins Grübeln gekommen, wenn er Zahnschmerzen hat? Ein hohes Gewahrsein zeichnet sich dadurch aus, dass man sich jederzeit die Interaktionen von körperlichen, geistigen und seelischen Prozessen bewusst machen kann. Im Idealfall ist es in der Lage, Gedanken/Vorstellungen (1) zu beobachten und dabei gleichzeitig zu spüren, wie sie die Körperempfindungen (2) und den emotionalen Zustand (3) verändern.

Entsprechend kann die Beobachtung bei Punkt 2 oder 3 beginnen und jeweils die Auswirkungen auf die beiden übrigen Komponenten wahrnehmen. Wie man das konkret erlernen kann, beschreibe ich auf der Seite Gewahrseins-Übungen. Aus den letzten Überlegungen ergibt sich die siebte Definition:

Gewahrsein ist die Fähigkeit, alle physischen, mentalen und psychischen Prozesse gleichzeitig zu beobachten und dabei zu registrieren, ob sich das Gesamtsystem in einem homöostatischen Gleichgewicht befindet oder nicht.

Burnout und Depressionen